Der Zauber des Rofan

Vom Balkon unseres Hauses, im Tiroler Unterinntal, wo ich aufgewachsen war, konnte ich jeden Tag den Rofan sehen. So nahe und doch so weit weg... für einen Elfjährigen waren 30 Km sehr weit weg. Eines Tages konnte ich nicht mehr warten, sprang auf mein ausgeleiertes Fahrrad und radelte den Schotterweg am Innufer entlang dem so lange unterdrückten Traum entgegen. Die Treterei bis zum Fuß des Rofan war mühsam, aber nichts gegen die folgenden 1500 Höhenmeter Zustieg, um meine Wand zu erreichen.

 

E ndlich am Fuß meines ersehnten Berges angekommen, zwei lange Stunden nachdem ich gestartet war, hüpfte und sprang ich begeistert die ersten paar hundert Höhenmeter den Wald hinauf, in Richtung der immer noch weit entfernten Wand. Ich hatte nicht den Schatten einer Vorstellung, wie mühsam es noch werden würde. Mehr als 3 Stunden später stand ich dann doch unter der erbarmungslosesten Wand, die ich je gesehen hatte. Es war mir klar, dass es keinen Weg zurück geben würde, falls ich es wagte, den sicheren Boden zu verlassen, um ins senkrechte Ungewisse zu klettern. Über mir war blanke Wand, keine Bänder, markante Risse oder Kamine, die auf eine Ausweichmöglichkeit hoffen ließen, falls ich nicht weiterkommen oder die Ausgesetztheit nicht mehr ertragen konnte.
Nein, an Aufgeben war nicht zu denken! Wo andere hochkamen, da musste ich auch hochkommen, auch wenn ich weder Kletterausrüstung noch Klettererfahrung hatte. Ich war eingeschüchtert und fasziniert zugleich, das letztere gewann. Ich begann einfach zu klettern, ohne weitere Zeit mit unnützlichen Gedanken zu verschwenden. Es war ein großartiges Gefühl, ganz allein Herr über das eigene Schicksal zu sein. Es hing nur von mir ab, ob ich überleben würde oder nicht. Es war ein Abenteuer, das ganz allein mir gehörte. Bald kam ich von der Originalroute ab und geriet an die Nordkante, die deutlich schwerer und anspruchsvoller war. Unter mir ein beängstigender Abgrund, über mir einige rostige Haken, die aus einem gelben Überhang ragten.
Eine Gruppe Wanderer kam den Steig unter der Wand entlang. Als sie mich entdeckten, allein hoch oben in der Wand, begannen sie laut zu beten und mir wurde klar, dass es sich um einen Priester mit frommer Anhängerschaft handelte. Ich kletterte weiter und vertraute auf die Gunst der Stunde, mein Karma, oder wie immer man es nennen möchte, setzte meine Tennisschuhe auf abschüssige Reibungstritte, steckte zwei Finger durch eine Hakenöse, schnappte nach fragwürdigen Griffen...und überlebte!

Das Abenteuer Klettern wurde nie besser als an diesem bemerkenswerten Tag, auch nicht in den folgenden Jahren, als ich ein versierter und erfahrener Kletterer geworden war und viel größere und schwierigere Solo-Begehungen machte.

 

1967

 

1987... Mit Hias Rebitsch im Rofan

 

V iele Jahre später hatte ich die großartige Gelegenheit, mit Hias Rebitsch einen Rofanspaziergang zu unternehmen. Hias war einer der absolut besten Kletterer der alpinen Geschichte. Seine Freikletterfähigkeiten und seine Kletterethik waren seiner Zeit - den 1930er und 1940er Jahren - weit voraus. Ich hatte mich mit ihm schon immer geistesverwandt gefühlt, trotz des großen Altersunterschieds. Seine Einstellung würde sogar nach heutigen Standards als "Avantgarde" betrachtet werden. Hier einige Zitate von Hias Rebitsch aus dem Karwendel-Buch von Heinz Zak:

“Ich begann dem Klettern zu verfallen. Es wurde fast zu einer Sucht, von der ich mich führen ließ, ohne mir Rechenschaft über Sinn und Zweck zu geben. Mit diesem Vorrecht der Jugend ging ich noch unbefangen und empfänglich für alles Schöne in die Berge. Manches von dieser ursprünglichen, puren Freude am Kampferlebnis und an der Natur geht verloren oder wird überlagert, wenn man in den Kreis einseitig ”Extremer” aufrückt und sich verpflichtet fühlt, seinen klettersportlichen Ruf verteidigen zu müssen...”

Bemerkenswert auch sein Kommentar, als er sich in der direkten Laliderer Nordwand mit Hilfe eines Holzkeils über einen Überhang schwindeln muss: “Das lässt sich nur mit Hilfe eines Holzkeils bewerkstelligen, den ich - als passionierter Freikletterer - mit mit einem schlechten Gewissen in die schmale Kluft eintreibe. Ich empfinde es als Verstoß gegen die klettersportlichen Regeln. Nun steck ich selber in diesem Dilemma der Jungen, die sich neue Felswege erschließen wollen und dafür den übermäßigen Einsatz von ”unfairen” technischen Hilfsmitteln in Kauf nehmen müssen.” - Hias Rebitsch 1946 (!)

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