Verlorene evolution...

 

Die Wiederentdeckung des Kreuzkofels in den Siebzigern

D er Kreuzkofel führte in den siebziger Jahren ein ruhiges Schattendasein. Nur wenige Eingeweihte wussten von der Schönheit einer Mayerl-Verschneidung oder der Großen Mauer. Vom Mittelpfeiler wusste keiner etwas konkretes, nur dass dort ein dickes Bündel Rückzugsschlingen von vergeblichen Wiederholungsversuchen zeugte. Niemand wäre damals auf die Idee gekommen,sich von oben abzuseilen und dem Geheimnis sozusagen durch die Hintertür auf den Grund zu gehen. Niemand hätte es gewagt, Bohrhaken mitzunehmen, um da, wo der Mut fehlte, den Risikofaktor zu beseitigen.

Für mich ist der Mittelpfeiler bis heute ein wichtiges Symbol alpinen Freikletterns geblieben. Kaum eine andere Route zeigt so deutlich den Unterschied, den der Verzicht auf Bohrhaken ausmacht.

In heutigen Zeiten würde man die Schlüsselstelle mit einem Bohrhaken entschärfen, den man gemütlich auf dem Band stehend schlagen könnte. Das Ergebnis wäre eine unbedeutende Plaisir-Route, von der niemand reden oder träumen würde.

Als junger Dolomitenkletterer war ich zunächst den Spuren unserer Vorgänger gefolgt, hatte versucht, mich in ihre damalige Situation zu versetzen, ihre Perspektive nachzuvollziehen, und hatte, darauf aufbauend, meine eigenen Gedanken entwickelt.

 

 

 

Der Kreuzkofel heute: Die geheimnisvolle Wand hat keine Geheimnisse mehr. Einst berüchtigte Routen sind zu Nachmittagsspaziergängen geworden. Vergessen wir nicht, dass Livanos und Messner noch biwakiert hatten, um ihre Neurouten zu machen. Die Dimension der Wand hat sich geändert, durch vorhandene Haken, durch klare Routenskizzen, bessere Ausrüstung und die Evolution des Freikletterns im Allgemeinen. Weniger Ungewissheit und ein schnellerer Kletterstil haben diese Wand um vieles kleiner gemacht und damit auch das Abenteuer. Neue Routen sind eröffnet worden, doch keine war so unkonventionell und herausragend vom aktuellen Zeitgeist wie der Mittelpfeiler.

Heute sagen junge Kletterer, dass man nach Patagonien oder in den Himalaia reisen muss, weil hier in den Alpen bereits alles gemacht ist. Wenn es ein wenig mehr Aufmerksamkeit für den Stil gegeben hätte, anstatt rücksichtsloser Eroberung, dann würde es noch eine Menge faszinierender Ziele geben und in den Dolomitenwänden würde es auch für zukünftige Generationen noch unzählige Geheimnisse zum Entdecken geben.

Ich sage immer, dass jeder Berg so groß ist, wie wir ihn sein lassen.

Traum... oder fortschritt?

 

Wenn man die historische Entwicklung betrachtet, sieht man eine kontinuierliche Zunahme an technischen Hilfsmitteln und Ausrüstung, die in den 50er Jahren absurde Ausmaße annahm. Aus der natürlichen Bewegung am Fels wurde Baustellenarbeit, der Kletterer zum Bauarbeiter! Doch dann, in den Sechzigern, entstand eine "Counterculture", eine Gegenbewegung und das Freiklettern wurde wiederentdeckt. 

Reinhold Messner’s Kampagne gegen den Bohrhaken, sowie sein Verzicht auf die Sauerstoffflasche an den Achttausendern, schien die Richtung für den Alpinismus der Zukunft endgültig festzulegen. Sich freiwillig in seinen Hilfsmitteln einzuschränken war eine klare Kampfansage gegen den Eroberungsalpinismus und man hätte meinen sollen, dass sich keiner, der sich auch nur ein klein wenig Gedanken über den Sinn seines Tuns machte, diesem spirituellem Erwachen hätte entziehen können.

Erstaunlicherweise überlebte der harte Kern der Eroberer diesen Anschlag auf die etablierten Konzepte und kann sich heute über eine Rückkehr der neuen Generation zur totalen Un-Ethik freuen.

Alpinisten und Kletterer sind zu spießigen Trend-Bedienern geworden. Heute ist allgemeines hinterherlaufen angesagt. Kaum einem fällt mehr etwas Unkonventionelles und Eigenes ein. Je höher jemand in der Gunst des Publikums aufsteigt, desto enger wird sein Horizont.

 

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